Gut lesen und gerne lesen: zwei Ziele, die zusammengehören

Lesen erfordert ein ganzes Bündel von Kompetenzen, und diese Teilkompetenzen werden – je nachdem, welche Arten von Texten gelesen werden – in unterschiedlicher Zusammensetzung gebraucht. Vergegenwärtigen wir uns dazu drei Beispiele von unterschiedlichen Text- und Lesarten.

Lesen und Lesekompetenzen

Wer einen kurzen Text, z. B. einen Witz, liest, muss die knapp vermittelten Informationen vollständig aufnehmen und diese in einen Lebenszusammenhang bringen, den er von ausserhalb des Textes kennt. Dann erst wird die Pointe verständlich sein.

Wer einen Sachtext mit Grafiken, Skizzen und erklärenden Bildlegenden liest (über das Aussterben einer Tiergattung zum Beispiel oder über die Entwicklung der Taschengeldbeiträge für Jugendliche), muss die Aussagen, die in den verschiedenen Elementen an unterschiedlichen Stellen im Text enthalten sind, in einen logischen, das heisst, der beschriebenen Sache angemessenen Zusammenhang bringen.

Wer schliesslich eine längere Geschichte, einen Roman liest, muss Informationen zu Personen und Handlungen über viele Seite hinweg in Erinnerung behalten und sie dann zum richtigen Zeitpunkt im Geschichtenverlauf mit den neuen Ereignissen verbinden. Nur so sind Handlung und auch die Spannung beim Lesen überhaupt erfahrbar und nur so ist man fähig, mit Figuren aus der Geschichte mitzuleben, mit ihnen zu fühlen und ihre Gedanken nachzuvollziehen.

Anforderungen und Gewinn beim Lesen von Literatur

Das Lesen von Literatur stellt also besondere Anforderungen. Es bietet dafür aber auch einen eigenen Gewinn und dies aus mehreren Gründen:

Literarische Texte sind in einer je besonderen, nicht bereits eingewöhnten Weise gestaltet und zwar meist mit einer Sprache, die sich von jener, die wir im Alltag verwenden, deutlich unterscheidet. Leserinnen und Leser müssen sich auf das Ungewöhnliche einstellen, sich auf das so genannte ästhetische Spiel eines Textes einlassen, um es geniessen zu können. Irritation und Genuss sind beim literarischen Lesen also eng miteinander verbunden.

Literarische Texte führen in Welten, auch in die inneren Welten der Figuren, die den Lesenden teils vertraut sind, teils aber auch unbekannt, überraschend und die je nachdem vollkommen fremd wirken. Das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen „Selbst- und Fremderfahrung“, den Leserinnen und Leser im Umgang mit Literatur erleben, ist ein Grund dafür, weshalb Literaturlesen attraktiv und lehrsam ist.

Literarische Texte zeigen Möglichkeiten von Lebens- und Erlebensformen, sie führen in Welten ein, die anders ausgestaltet sind und anders funktionieren als jene Welt, in der sich die Leserin oder der Leser real befindet. Lesend kann man sich auf wilde Abenteuer einlassen und dennoch behaglich auf dem eigenen Sofa sitzen. Lesend lässt sich je nachdem auch die Schwere des eigenen Alltags überwinden, zumindest für die Zeit, in der man sich in erzählten, attraktiven Umgebungen aufhält. In einem solchen Fall tritt Selbstvergessenheit beim Lesen ein: ein Zustand, den (nicht nur) jugendliche Leserinnen und Leser als besonderen Gewinn bei ihren Lektüren empfinden.

Lesemotivationen und die Rolle von Lehrpersonen

Lesemotivationen sind wohl die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche erfolgreiche Leseentwicklungen durchlaufen. Wer gerne liest, liest häufig – wer häufig liest, liest in der Regel gut – wer gut liest, hat Vertrauen in die eigene Lesefähigkeit und nimmt sich selbst als Leserin oder Leser wahr ­– und wer ein in diesem Sinn positives Leseselbstkonzept hat,  liest gerne.  Ursache und Wirkung dieser einzelnen Merkmale lassen sich nicht eindeutig festmachen, die Leseforschung zeigt verschiedene Zusammenhänge zwischen ihnen. Von welchem Element auch immer man die Wirkungskette aufziehen will: die Lesemotivation, das Lesenwollen (in Bezug auf die Lesetätigkeit) und das Interesse an Lektüren (in Bezug auf bestimmte Texte, Bücher u.a.) sind entscheidend. Leitend für das Verständnis von Lesemotivation(en) ist die Vorstellung, dass kompetente Leserinnen und Leser die Heranwachsenden in die Welt der Schrift hineinführen in der Art eines gemeinsamen, so genannt ko-konstruktiven Herstellens von Verstehen oder auch eines gemeinsamen Geniessens von Texten. Lehrerinnen und Lehrer übernehmen hier eine grosse und entscheidende Aufgabe, wenn sie Freude am Lesen und damit die Voraussetzungen zum Lesenkönnen vermitteln.

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